Es thaut.
- Gerhard Zauner
- 26. Dez. 2020
- 16 Min. Lesezeit

2. April 1885
Es thaut.
Eine Bauerngeschichte.
Erzählt von Auguste Groner.
Kennst Du das gottgesegnete Salzkammergut mit seinen himmelragenden Bergen, seinen Coniferenwäldern und Laubforsten, seinen heimlichen Thälern und lieblichen Seen?
Kennst Du die knorrigen Leute, die es bewohnen; die weitab vom Menschenverkehre leben, die auf schweigenden Jägersteigen wandern, auf hochgelegenen Salinenwegen gehen und auf dunklen Waldpfaden ausschreiten; denen ein über den Wildbach geworfener Baumstamm „a Brückn", denen ein Abgrund „a Grab'n" ist; die über Berge steigen, um den „Nachbarn" heimzusuchen; denen eine Wanderung von vielen Stunden so viel gilt als uns eine Ringpromenade?
Freilich spreche ich von den Leuten, deren Heimstätten weit drinnen zwischen den Bergen liegen, die den Pfiff der Locomotive nicht hören, wenn sie auf ihren Feldern arbeiten, die stundenweit oft zur Kirche haben und zum Doctor und zum nächsten Haus. Und von den kleinen Gemeinden spreche ich, deren Wohnstätten wie ein Nest verborgen in einem Kranze schützender Berge liegen; deren Leben sich hier scheinbar so ruhig abspielt und doch oft von Leidenschaften ebenso zerrüttet wird als das der Großstädter; auf deren Treiben die Bergriesen oft dräuend und oft freudig erglühend niederschauen, wie es Eltern zu thun pfiegen.
Und Kinder der Berge sind sie ja, diese rauhen, eigenartigen Menschen.
Solch' Leben führen die, von denen ich Dir erzählen will.
Das Thal, darin sie wohnen, heißt die Gosau. Es liegt fernab von den glatten Wegen, welche die Eisenbahn zieht. Am Abend leuchtet der rosig angeglühte Schnee, der bis spät in's Jahr auf den Donnerkogeln liegt, herunter, und am Morgen ziehen weiße Nebel über dem weiten, feuchten Thale dahin, das die Gosau in wilden Sprüngen durcheilt, um, es verlassend, zwischen mächtigen Felswänden, auf stundenlangem Wege beim Gosauzwang angelangt, in den Hallstättersee zu fallen.
Dort, wo es gegen den Paß G'schütt hinaufgeht, wo ein im Frühjahre tückisches Bergwasser in tiefer Furche der Gosau entgegeneilt, wo jetzt manche Wirthschaft entstanden ist, auf dem moosigen Grunde, auf dem vor mehr denn fünfzig Jahren der Sonnenschein mit den wilden Alpenblumen spielte, dort stand damals ein einziges, nettes Häuschen auf einem der mächtigen Felsen, der steil zum Wildbach abfällt. So steil, daß der vorsorgliche Bauer eine halbmannshohe Mauer aus Abfallsteinen gegen den Bach hin aufführte, um jedes Unglück zu verhüten. Rings um das Häuschen waren Felder und Wiesen, und dicht daran lag"ein Küchengarten, in dem, nebst nützlicheren Dingen, manch' duftendes Kraut und manch' bunte Blume gepflegt wurden.
Die das Haus bewohnten, waren arme Leute. Johann Hauer, der Hausvater, war ein fleißiger Mann, der, seinen Kindern lebend, mit Gottverttauen und heiterem Muthe betete und arbeitete. Er hatte vor mehreren Jahren seine Frau begraben. Sie war eine stille, tiefinnerliche Natur gewesen, die gleich ihm ununterbrochen der Pflicht gelebt hatte, die ihrem Manne ein demüthiges, treues Weib, ihren Kindern eine selten gute Mutter gewesen war.
Der einzige Sohn des Hauses war Priester geworden. Stasi, die älteste Tochter, hatte einen Förster geheiratet, der zuerst in der Hallslatt wohnte und sich, da er eine kleine Erbschaft gemacht und eben ein Posten leer geworden, nach dem Gosauthale, das auch seine Heimat war, hatte versetzen lassen.
Daheim war nur mehr die zehnjährige Mirzl.
Die verlassene Wirthschaft verlangte eine Hausfrau, das kränkliche Kind bedurfte einer Pflegerin, einer Erzieherin. So kam es, daß nach langem, schwerem Entschlusse der alte Hauer noch einmal freite. Die Frau, die er seinem Kinde zur Erzieherin, zur Mutter gab, schien ein stilles, frommes, weltabgewandtes Wesen zu sein; so recht geschaffen für sein friedliches Heim. Aber es zeigte sich nur zu bald, daß ihre Sanftmuth schleichende Tücke, ihre Frömmigkeit Heuchelei, ihre Weltabgewandtheit wohlbegründete Menschenscheu war.
Wohlbegründet deshalb, weil sie gar oft schon durchschaut worden war und fürchtete, auch hier erkannt zu werden, wo sie der verdienten Verachtung nicht leicht entgehen konnte. Was bei versteckt-leidenschaftlichen Menschen so oft vorkommt, war auch ihr geschehen. Die Dienstbarkeit hatte sie zur Leisetreterin gemacht, hatte sie Verstellung, List und Lüge gelehrt. Der Luxus, den sie zuweilen um sich sah, hatte ihr eine Gier nach ihm eingeflößt, und diese Gier hatte sich zur Habsucht, zum Geize entwickelt.
Rechnen wir noch dazu, daß Apollonia trotz absoluter Reizlosigkeit und trotz ihrer vierzig Jahre von brennender Sinnlichkeit war, so haben wir das genaue Bild derer, die als Hausfrau im Felsengute einzog. Als Betschwester war sie, die daheim alle Hände voll zu thun hatte, alltäglich stundenlang in der Kirche und bald eine der eifrigsten Verehrerinnen des noch immer sehr stattlichen, aber ach, leider allzu geistlichen Pfarrers, der ihr einmal im Beichtstuhle kurz und bündig auseinandersetzte, daß die süßräucherige Dämmerung des Gotteshauses durch nichts so sehr entweiht werde, als durch heuchlerische Weiber, die zu Gott flehen und den Priester meinen. Von da an war sie weniger fromm. Außerdem zeigte es sich, daß sie durch und durch krank war und kaum fähig, ihrer Wirthschaft vorzustehen, theils ihres Siechthums wegen, theils ob ihrer Unkenntniß und Trägheit. —
Nur eine gute Seite hatte sie — das war die äußerste Reinlichkeit.
Diese Person nun kehrte auf dem Felsengut Alles unter einander, wobei eine Magd und die kranke Mirzl ihr Handlangerdienste leisteten, und sie blos den Feldherrnstab schwang.
Ihrem geistlichen Stiefsohne, in welchem sie ihre zukünftige Versorgung erblickte, machte sie sich bei seinen Besuchen auf alle Weise angenehm. Die Schwestern untereinander und den alten Mann gegen seine Töchter aufzuhetzen, wurde ihre liebste Beschäftigung.
Die blasse Mirzl kostete den ganzen Despotismus, den eine gemeine Natur gegen die Unbeschützten hat. Doch nur Eine wurde von der Hauerin bis in die tiefste Seele gehaßt— das war Stasi, ihres Mannes älteste Tochter, von der sie bald durchschaut worden war, und die in ungleich besseren Verhältnissen lebte als sie selbst.
Das vergißt und verzeiht der 'Neid niemals.
Stasi's Wohlstand fraß an dem Herzen ihrer Stiefmutter, und so oft deren grünliche Augen auf das Gut fielen, das der Förster Rolf gekauft, und in dem ihre Stieftochter die glückliche Hausfrau war, schlug ihr Haß tiefere Wurzeln.
So verflossen Jahre. Mirzl hatte traurige Zeiten. Vorher vom Vater arg verwöhnt, ward sie dann zum „Prügelmädchen" der herzlosen Stiefmutter. Nur wenn der Vater daheim war, fand diese eine gewisse süßliche Freundlichkeit für das Kind, denn sie wagte es doch nicht, seinen Liebling vor ihm zu kränken. Die Folge dieses Benehmens war, daß Mirzl ihre Stiefmutter verachten lernte.
Hauer selbst, der einen kleinen Holzhandel trieb und somit vielfach außer dem Hause war, fühlte vielleicht am wenigsten die dunklen Seiten am Charakter seiner zweiten Frau. Für ihn hatte sie stets Schmeichelworte und wußte den alten Mann auf kluge Weise nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, was Alle, nur er selbst nicht, merkten. Mit Leid sah Stasi, daß die Schwester verschlossen und unglücklich sich zeigte, daß der Vater argwöhnisch und kalt wurde, aber versuchte sie einmal ihm die Augen zu öffnen über das Leben, das sein Liebling führe, über die Stellung, in die er selbst gerathen war, dann merkte sie immer, daß der Einfluß der Slieftmutter ein größerer war als jeder andere; und belächelten Andere den alten Mann, sie konnte nur ein herzliches Mitleid mit ihm kühlen, der seinen Willen zu besitzen glaubte und doch nur die Puppe in der Hand einer Komödiantin war.
Mirzl war nun erwachsen. Sie arbeitete, wenngleich sie nicht stark war und unter den obwaltenden Umständen wenig Lust zu irgend etwas hatte, doch so viel als möglich im Haushalte, den sie jetzt allein besorgte.
Eine Magd war überflüssig geworden, und ihre Stiefmutter zog sich unter dem Vorwande, daß ihre Gesundheit es nicht gestatte, von der Arbeit mehr und mehr zurück. In Wahrheit aber spielte sie jetzt mehr als je die Leidende, weil sie sich unendlich gern bedienen ließ, die bis zu ihrem vierzigsten Jahre der Schuhlappen Anderer gewesen war.
Zur Schwester kam Mirzl oft, wenn auch nur auf einen Sprung, denn sie wußte recht gut, daß sie bei dieser ungetrübte Liebe fand.
Stasi war zudem von Fremden sowohl als von Freunden der Familie aufgefordert worden, der Ehre der Schwester sich anzunehmen, die unter dem schamlosen Tratsch der Felsengut-Bäuerin geschädigt werde.
Daß auch über sie selbst und ihre todte Mutter allerlei Lügen durch jene verbreitet worden waren, wußte sie längst.
Um des lieben Friedens willen hatte sie bislang geschwiegen.
Heule, es war am Mittwoch der Osterwoche, war ihr eine Aussage ihrer Stiefmutter hinterbracht worden, die, wenn man sie glaubte, die Zukunft Mirzl's beeinflussen mußte. Sie nahm ein Tuch um und verließ das Haus, um endlich die Sache in Ordnung zu bringen.
Es war am späten Nachmittag. Raschen Fußes ging sie die Dorftrraße dahin. Sie kam an eine Stelle, wo sie den Friedhof zur Seite hatte. Dort lag die unvergessene Mutter. Ein Aufblitzen in Stasi's Augen zeigte, daß sie eben einen Entschluß gefaßt habe. Ruhig schritt sie weiter durch die triefende Gasse. Der Vorfrühling ist ja immer die Zeit, in der die Natur mit dem Schmutze aufräumt. Freilich in Bergländern wird sie oft das ganze Jahr damit nicht fertig. Jede Dachrinne traf vom kaum beendeten Regen; an den Firsten der Häuser lief das Wasser herab. Die Schindeln waren vollgesogen und die Mauern dunkler gefärbt durch die Feuchtigkeit.
Die Sträuche und Bäume, vom Winde bewegt, nickten mit ihren Zweigen, und von jeder der braunen Blattknospen fiel dann ein Tropfen zur Erde. Dort fand er sich zu anderen seinesgleichen, die zu Wasserfäden vereint in die Radspuren liefen und lustig die Straße hinnnterrannen. Noch stand drohendes Gewölk an, Himmel. Die Berge waren mit dichten Wolken manchesmal verhangen, und tönte ein Knallen von den Berglehnen her. Das war der schmelzende Schnee, der von irgend einer steilen Wand zu Thal ging.
Dichter zog Stasi das Tuch um die Schultern, denn es war noch empfindlich kalt, trotzdem die Ostern diesmal spät in's Jahr fielen.
Jetzt tritt sie über die väterliche Schwelle und sieht eine der Scenen, wie sie hier nur zu häufig sind. Sie weiß, daß der Vater auswärts ist und erst am Samstag erwartet wird: da hat Frau Apollonia freie Hand und kann ihrer Bosheit genug thun. Mit verbundenem Kopfe kauert die Mirzl lautweinend in einer Ecke, während die Stiefmutter ihr ein Tuch zuschleudert und mit einer Stimme, so spießig wie Alles an ihr ist, schreit: „Du gehst, ganz g'wiß gehst, und wenn a Wolkenbruch kommt." „Wohin?" fragt die Stasi, die in der offenen Thür steht. Die Mirzl springt auf, alle Muthlosigkeit ist von ihr gewichen, denn jetzt ist Schutz da. Die Hauerin hat den Kopf gewendet und schaut halb zornig, halb scheu nach der Angekommenen, zu der sie endlich sagt: „Nach der Hallstalt muß's. No ham ma nix z'Haus für die Feiertag'." „Da wird's wohl drein übernachten?"
Noch immer redete die Stasi ruhig. „Na, i müßt' glei wieder z'Haus," sagt die Mirzl, und Stasi tritt der Stiefmutter einen Schritt näher. „Durch die Klamm soll's geh'n? In der Nacht, wo der Mondschein nit durch d'Wolken kann und der Schnee herunter geht. Bald acht Stunden am Weg. Na, Bäuerin, hast was z'thun in der Hallstatt, gehst selba," sagt sie, und heißt die Mirzl das Tuch nehmen und in's Forsthaus gehen.
Wuthschnaubend hört das zaundürre Weib zu und schaut grimmig ihrem Opfer nach, das sich rasch entfernt. Einen Moment lang stehen die Beiden einander schweigend gegenüber, dann knurrt die Alte: „Was willst denn no, nach dem Du 's Madl aufg'hetzt hast?" „I hab' no was z'reden mit Dir. Merk' Dir's erstens, daß i mei Schwester net aufhetz', dazu is's ma z'liab. Sie muß ja bei Euch leb'n, und i will ihr das Leb'n net no sauara mach'n als's eh schon is, aber schütz'n wir i's vor, Dein' Haß, und das braucht's, denn Du bist a Stiefmutter, wia's im Büchel steht." Mit fliegendem Athem fährt sie fort: „Scharr' meintweg'n z'samm, was D' kannst, wann's Di net schamst, a Unmündige zu bestehl'n, aber lass' ma ihr' Seel' in Fried'n. Z'widerer als 's eh schon is, sollst's nimmer machen, mein' arme Schwester, die Deine ganze Bosheit erb'n wird, wann's no lang bei Dir is." Sprachlos hielt die Alte die Dose, aus der sie ihre spitze Nase zu beizen pflegte, und starrte die kecke Sprecherin an. Sie fiel ihr nicht einmal in's Wort, als jene fortfuhr: „Nur weg'n 'n Vater schau i bis jetzt zu, denn er soll, so lang's geht, a friedlich's Alter hab'n.
Aber hüt' Di, daß Du es net z'arg treibst, sonst möcht' er wohl Alles erfahr'n." „No, das wär' weiter was!" höhnte die Hauerin, die ihre Fassung wieder gewonnen hatte, „da thäi' i mi aber fürcht'n!" „Und do hast a Ursach' dazua, denn wenn er erst müßt', was Du von unserer todten Mutter g'sagt hast, was Du über mi lüagst und über eahm selba, und wie Du da Mirzl, sein' Herzbinkerl, d'Ehr' abschneidst, aus daß sie a ehrlicha Bua nimmer anschau'n kann. I waß's net, was Dir da g'schechat!" Die Bäuerin zeigte Unruhe. Die furchtbare Erregtheit, die aus Stafi's ganzem Wesen sprach, ängstigte die Alte, die sich allein mit ihr wußte, allein und schuldig. „Was hab' i denn — ?" begann sie zaghaft. „Nur still, 's ganze Dorf weiß, was Du z'sammg'log'n hast, wann Dir's a Kaner glaubt. Fürcht' Di net," fuhr Stasi fort, die Zurückweichende verächtlich anblickend, „i rühr' Di schon desweg'n net an, weilst a Krüppel bist, denn Du bist wohl an Dein' Leib g'schlag'n für alle Schlechtigkeiten, die Du schon 'than hast und no thuan wirst. A weg'n mir red' i ka Wort. Dein G'schwätz kann mir net schad'n, aber das sag' i Dir, a Luag no über d'Mirzl, und Du sollst mein' Mann und mi kenna lerna. Und jetzt nimmst Dein Tüchel." „Warum? I geh' heut' nimma fort!" Die Bäuerin sagt es mit angstvoller Verwunderung, doch schon reicht ihr Stasi das Tuch vom Schragen herunter und geht an die Thür, deren Schlüssel sie außen ansteckt. Bitter höhnend klingt ihre Stimme, da sie zur Stiefmutter sagt: "A freili gehst no fort, wenn a net auf Hallstatt. Aber eil' Di, i hab' net lang Zeit." Die Grausamen sind stets feig. Deshalb folgt die Hauerin lautlos dem mächtigeren Willen der Gehaßten, die hinter ihr das Haus abschließt und ihr dann den Schlüssel reicht. Schon war es Abend geworden. Die Wolken hatten sich verloren, und über der Zwieselalm stand der Mond, eine kaum erst Licht verbreitende Scheibe. Die Bergcontouren traten scharf am stahlblauen Himmel hervor. Leise neigten sich die Coniferen im Abendwind. Es war eine Art todter Feierlichkeit in der Luft, und tiefe Stille umfing die Frauen, die nebeneinander hinschritten. „Wohin führst mi?" fragte endlich die Alte. „Mir san schon da," war die ernste Antwort, und Stasi stieß das Gitter auf — an das sie eben kamen — es verschloß den Friedhof. Die Hauerin machte einen Schritt zurück — doch schon hatte Stasi's Hand sich wie eine Klammer um die ihre gelegt und führte die Beklommene zwischen den Gräbern hin. Jetzt läßt sie sie frei. Sie stehen vor einem Hügel, der, von Epheu umgrünt, ein einfaches Kreuz trägt. Die Hauerin zittert. Stasi streift sie mit einem verächtlichen Blick, dann sagt sie: „Scheber net so, von der, die da unten liegt, hätt'st a nichts z'fürchten g'habt, wenn Du ihr bei Lebzeiten nachg'sagt hätt'st, was Du ihr als todter erfunden hast. Aber i bin net so mild. I will, daß Du ihr's abbitt'st — da — an ihr'n Grab — da wirst Du Dir's ein andersmal überlegen, zu ihr'n Namen a Luag zu erfinden." In hilflosem Schreck schaut die Verleumderin bald auf das Grab, bald aus die gewaltthätige Stieftochter. Der Hochmuth und die Furcht, Jene noch mehr zu reizen, kämpfen in ihr. Sie fühlte eine Erleichterung darüber, daß das Alles sein sollte — sie hat eine Confrontation oder dergleichen erwartet — und in dieser Erleichterung wächst ihr Trotz. Sie wendet sich hin und her und murmelt giftige, unverständliche Worte. „Na wird's," ruft Stasi in neu aufloderndem Zorn — da ist der Alten Trotz obenauf. Sie murmelt: „Und wenn i's net thua?"
„So werd' i Di zwingen dazua." Und schon liegt der Hauerin dürre, gebrechliche Gestalt, durch eine einzige Bewegung von Stasi's Hand dazu gezwungen, zu Füßen des Grabes — in dessen lockere Erde ihre ausgespreizten Finger fahren. Ein leiser Aufschrei.
Sie sucht ihre Hände von der unheimlichen Erde zu befreien und will sich aufrichten, doch noch liegt die mitleidslose Hand auf ihrer Schulter. Und nun grollt Stasi: „Hat meine Mutter an' schlechten Wandel g'führt?" „Na," keucht die Hauerin. „War's faul und genäschig ?' „Na, Stasi, na, aber lass' mi' aufstehen." „Du bleibst, bis D' mir g'schworen hast — ihr'n Namen nie mehr z'nennen; und der Mirzl ihr' Ehr' so guat's D' kannst, wieder herz'stellen." Kühl und scharf wie Nordwind tönen diese Worte an der Schuldigen Ohr. Sie weiß, daß es kein Entrinnen gibt, und zitternd vor Kälte, Zorn und abergläubischem Grauen, verspricht sie Alles, was Stasi fordert und schnellt auf, da sie sich frei fühlt. Stasi, ruhiger geworden, sieht ihr tiefernst in das noch entstellte Gesicht — dann sagt sie:
„Vergiß net, was'D heut' g'schwor'n hast. Es kann no Alles guat wer'n, a zwischen uns. Du brauchst ja nur An's z'thuan, bleib' bei der Wahrheit. Und jetzt geh' z'Haus, Du schaust net guat aus." Halb abgewendet von ihr steht die Hauerin, in's Leere starrend. Stasi ordnet Einiges an dem Grabe. Sie sieht den Blick glühenden Hasses nicht, den ihre Stiefmutter auf sie wirft. Jetzt hebt sie den Kopf. Wie ein Knall und Grollen und Rauschen kommt es durch die Luft. Über das verschrumpfte Weib hinweg schaut sie nach einer hohen Wand, die — eben noch weiß gewesen — jetzt die Farbe des Gesteines zeigt. „Eine Lawine! Gott schütz' uns vor allem Unglück!" stammelte das nervenstarke, junge Weib, und die Alte zischelte über das Grab her:
„Freilich, Dein Mann ist viel unterwegs!"
Stasi drückte die Hand auf's Herz, dann geht sie an der Stiefmutter vorüber, dem Ausgange des Friedhofes zu. Immer eiliger wird ihr Schritt — immer größer ihre Angst. Doch, Gottlob — auf der Schwelle ihres Hauses steht ihr Mann und Mirzl. Wie ein Schatten huscht die Hauerin dem Felsengute zu.
Am anderen Morgen lachte heller Sonnenschein in's Thal. Vor den Thüren standen rothbäckige Kinder und schauten mit gläubigen Augen nach dem Kirchthurme, den Glockenflug erwartend — denn es war Gründonnerstag.
„Bist z'spät aufg'standen, Dirndl!" sagte der Landbote zu einem allerliebsten Kinde, das mit weitgeöffneten Augen nach der Kirche sah, und weitergehend, neckte er eine Schaar Buben damit, daß er ihnen zurief: „Sind längst fortg'flogen, unsere Glocken, rast'n g'rad am Dachstan."
Dann trug er seine Briefe in die Häuser. Einen davon brachte er auf's Felsengut. Die Hauerin steckte ihn hinter den Spiegel, denn er war an ihren Mann adressirt, und da durfte sie ihn nicht öffnen. Sie war heute noch mürrischer als sonst, noch bleicher und sichtlich unruhig.
Mirzl, die am Morgen zurückgekehrt war, versuchte es umsonst, sie gut zu machen. Die immer größer werdende Unruhe ihrer Stiefmutter quälte das Mädchen, denn sie sah recht gut, daß in jener etwas vorging, und gegen wen konnte es gerichtet sein, als gegen sie selbst. Wie Erlösung war es ihr daher, als sie gegen Abend die Weisung erhielt, zur Kirche zu gehen.
Im Vorbeigehen trat sie bei der Schwester ein, und bald betraten Beide die von Dämmerung erfüllte Kirche. Nur die Nische, in der das heilige Grab sich befand, war von Lichtern bestrahlt und dicht von den Dörflern umlagert. Nachdem sie ihre Andacht verrichtet hatten, verließen die Beiden die Kirche und traten in die Nacht hinaus, aus der die Sterne herab funkelten.
Eilen wir ihnen voraus.
Auf dem hübschen Gute des Försters Rolf herrschte tiefe Stille. Weib und Dienstleute waren in der Kirche und er allein daheim. Eben wollte er die geputzte Flinte an ihren Platz hängen, als Thyra, seine Dogge, den Kopf lauschend hob und knurtte.
Noch mit der Flinte in der Hand ging er aus dem Zimmer, das er schloß, und durch die Küche nach dem Gang, der den Hof entlang lief. Er konnte nichts gewahren. Doch ja, drüben, wo der Stall den Hof nach einer Seite hin abschloß, glaubte er eine sich langsam bewegende Gestalt zu sehen. Er selbst war von ihr unbemerkt geblieben, denn er stand im tiefen Schatten des überhängenden Daches, und das Geräusch seiner Schatte war von den im Abendwind rauschenden Bäumen übertäubt worden.
Rasch ging er die wenigen Stufen hinab und eilte über den Hof. Da glänzte vor ihm eine bläuliche Flamme auf und beleuchtete ein bleiches, entstelltes Gesicht, einen fleischlosen Arm. Der Büschel entzündeter Streifhölzer entsiel der verbrecherischen Hand, noch ehe sie dem Dachffroh allznnahe gekommen waren, denn ein Kolbenschlag hatte jene Hand gelähmt.
Ein Schrei gellte durch die Nacht und machte die zwei weiblichen Gestalten schneller ausschreiten, die vom Kirchweg herabkamen.
„Das war bei uns," sagte Stasi, nach dem abseits liegenden Gehöft zeigend, und sie flog der Schwester voran ihrem Hause zu.
Dort angekommen, sah sie vor sich zwei Gestalten im Dunkel verschwinden. Gleich hinter ihr betrat Mirzl das Haus, das sie leer fanden. Thyra sprang ihnen aus der Stube entgegen und dann auf die Sttaße hinaus.
„Du bleibst da, bis ich oder Georg kommen," bedeutete nach schnellem Entschlusse die Stasi ihrer Schwester, und dann eilte sie fort.
Unruhig ging Mirzl durch das verlassene Haus. Die Kühe brüllten, und sie nahm eine Laterne, um nach ihnen zu sehen. Als sie die Stallthüre öffnen wollte, glaubte sie Phosphor zu riechen. Erschrocken sah sie umher und fand am Boden eine Anzahl Schwefelhölzer, von deren einigen noch bläulicher Dampf aufstieg. Mit bebender Hand sammelte sie die am feuchten Boden freilich ungefährlichen Dinger. Jetzt wußte sie Alles. Schweigend und bleich ging sie in's Haus.
Charsamstag war gekommen. Nachts war ein starker Regen gefallen, aber jetzt schien die Sonne goldig, und der leichte Wind trocknete die Straßen. Die Natur machte Ostertoilette. Wieder eilte zur Kirche, was nicht daheim schaffen mußte. Nur aus dem Felsengute ging Keines dahin. Dort lag im blüthenweißen Bette die Hauerin und schaute mit trüben, unglücklichen Augen zu dem Stück blauen Himmels hinüber, das durch das Fenster hereinleuchtete. Mirzl schaffte geräuschlos, und sanfter als je klang ihre Stimme, wenn sie die Stiefmutter nach ihren Bedürfnissen fragte. Nur wenn sie die schwerverletzte Hand nach des Baders Anweisung mit neuen Compressen umhüllte und die Bäuerin schmerzhaft dabei stöhnte, wurde ihr blaues Auge finster, und neben dem Mitleid für das schwer bestrafte Weib stieg der Zorn in ihr auf gegen die Verbrecherin. Es rasselt die steinige Straße herauf, und ein Wagen hält vor dem Hause. Mirzl tritt vor die Thüre und liegt gleich darauf, laut schluchzend, am Halse eines jungen Priesters. Es ist ihr Bruder Franz, der Allmächtige im Vaterhause, er, den sie Alle lieben, dessen Rath ihnen heilig ist, denn Alle wissen sie es, daß er aus einem reinen, liebeerfüllten Herzen kommt. Jetzt weiß Mirzl, daß Alles so gut werden wird als es noch werden kann. Hand in Hand treten die Geschwister in das Haus, in's Zimmer. Dort sieht der Priester seinen noch uneröffneten Ankündigungsbrief hinter dem Spiegel. Wenige Worte haben ihn darauf vorbereitet, wie es hier steht. Mit der Ruhe, die ihm sein heiliger Beruf gibt, tritt er an das Krankenlager. Mirzl hat das Zimmer verlassen. Sie Achtete das einfache Mahl, zu welchem auch der Vater schon erwartet wird, während in der Stube drinnen in ein tief verschuldetes Herz erlösende Reue einzieht. Als der Priester an das Bett getteten war, hatten ihn trotzig blickende Augen angesehen. Dann hatte er leise zur Kranken gesprochen und ihre gesunde Hand liebevoll in die seine genommen, und ihr Gesicht hatte den bitteren, haßerfüllten Ausdruck verloren, und endlich waren Thränen darüber hingerollt, und herzbrechendes Schluchzen hatte ihren siechen Leib erschüttert.
Dann hatte sie ihn tief in ihre Seele schauen lassen, die, wie schuldig sie sein mochte, doch jetzt diese Schuld zugab und sie bereute und gut machen wollte, was noch gut zu machen war. Und da der Priester die Mirzl zu ihr führt, legt sie zum ersten Mal ihren Arm um das Mädchen und schluchzt reuig:
„Mein armes, armes Kind!"
Und Mirzl nennt sie zum ersten Mal ohne Groll „Mutter" und heißt sie ruhig werden.
Abends, da die Glocken wieder heimgekommen waren, wenngleich sie keines der jungen Augenpaare, die hinauf lugten, durch die Luft fliegen sah, läuteten sie zur Auferstehungsfeier. Alles eilte zur Kirche. Der hochwürdige Franz Hauer, das Ortskind, hielt den Gottesdienst.
Sein Vater, Georg Rolf und der Pfarrer, die im Sanctuarium saßen, fanden, daß heute ganz besonderer Ernst auf den Zügen des jungen Priesters liege, und daß die Augen des noch nicht lange Geweihten doch ganz eigenthümlich glücklich aussahen. Er wußte eben, daß jetzt daheim ein Versöhnungsfest gefeiert werde. Er war bei Stasi gewesen und hatte ihr in seiner klaren, ruhigen Weise von den Abgründen des Menschenherzens erzählt und von den Versuchungen und davon, wie leicht man ihnen erliegt. Er hatte sie nicht darob getadelt, daß sie die Scene am Friedhofe herbeigeführt hatte, er stellte ihr nur vor, wie gerade diese den Haß der Unglücklichen bis zum Verbreche gesteigert habe. Er bat ferner die schon Gerührte, der Reue der Stiefmutter entgegen zu kommen und ihr die Vergebung nicht zu versagen. „Merke nur Eines," sagte er noch, „manche Menschen sind nur durch Liebe zu bessern, und ich verlange nicht zuviel von Dir — Du wirst nicht lauge Dein Erbarmen brauchen." Und da Stasi, im Felsengute angekommen, die wieder sah, die ihr Mann gestern auf ihrer wilden Flucht eben erreicht hatte, als sie sich über die schützende Mauer in den Bach schwingen wollte — die, welche sie Beide in das Haus und auf ihr Lager brachten, deren wirren Reden sie dann eine lange Nacht hindurch lauschte, während Georg heimging, die Mirzl zu beruhigen, als sie die völlig gebrochene Feindin wiedersah und diese die Hand nach ihr ausstreckte und tiefbereuend ihre Vergebung erflehte, da konnte Stasi nicht anders, als zu ihr treten und mit feuchten Augen sagen:
„Lass' Alles vergeben und vergessen sein, auch Du hast mir Manches zu verzeihen."
Und sie drückte zum ersten Male ihre Lippen auf die der Stiefmutter, auf diese Lippen, die ja auch schon der Tod geküßt. Stasi erkannte es, wie ihr Bruder es erkannt hatte.
Erschüttert mußte sie sich abwenden. Sie trat an's Fenster.
Da unten im tiefen, schmalen Bette wogten sie und überstürzten sie sich, die brandenden Wellen, die Nachts vielleicht noch als starre Decke über starren Felsen lagen. Die Sonne hatte sie wachgeküßt und in die Ferne gesandt als lebenbringende Fluth.
Bald darauf traten die drei Männer herein und finden Stasi an der Stiefmutter Bett, in freundlichem, beruhigendem Gespräche. Später stehen Mirzl und ihr Bruder an der Hofmauer und schauen in den Bach hinab, der immer wilder und wilder vorbeitost. Mirzl sagt endlich: „Schau nur, Franz, das Wildwasser. Es thaut oben!" Da nimmt der junge Priester ihre Hand in die seine und sagt ernst: „Ja, es thaut, Schwester. So soll's ja sein in der heiligen Osternacht, dort oben in den Bergen und hier unten in Menschenherzen."
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